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Kontexte von HIV-Neuinfektionen bei schwulen Männern

TitelbildzurStudieEine Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit, Bonn und in Kooperation mit der Gemeinschaftspraxis Jessen, Berlin

Vorbemerkung

Folgt man manchen schwulen Szenediskursen, so scheint HIV-Prävention ganz einfach zu sein. Normativ und alarmistisch wird einfach zwischen Kondomnutzern (Präventionserfolg!) und Kondomverweigerern (Bareback! Präventionsversagen!) unterschieden. Die erste Gruppe verhielte sich rational und gesundheitsbewusst, die zweite irrational, naiv und krank. Besonders junge Schwule („bis 30“) seien in ständiger Gefahr. Betont wird von den Wortführern, dass man es selbst „immer mit Kondom“ treibe, die jeweils Anderen würden das aber nicht (durchgängig) tun. Den „amtlichen“ Präventionisten wird empfohlen, verstärkt Kondomisierungskampagnen mit Todesbedrohungsszenarien zu starten, diese sollten Kondomdistanzierte „mal richtig wachrütteln“.

Wie zum Beweis werden alle Jahre wieder in Skandal heischenden Fernsehberichten Männer (auch mal nicht erkenntlich hinter Schattenwänden) vorgeführt, die vor wackelnden Kameras behaupten, andere oder sich selber mit HIV infizieren zu wollen. Zunächst ertönen musikalisch Molltöne, Friedhofsansichten ploppen auf, dann befinden wir uns durch einen abrupten Szenenwechsel auf einer schwulen Party: Erhitzt wirkende Männer umschwirren einander im wahlweise Stroboskopgeblitz oder Schummerlicht.


Aus dem begleitenden Kommentar erfahren die irritierten Zuschauer, dass die HIV-Infektionen seit Jahren „bei Homosexuellen dramatisch“ steigen würden, Schuld daran sei eine „(neue) Sorglosigkeit“, die aufgrund verbesserter Therapiemöglichkeiten nun unkontrolliert um sich greife, und das „obwohl Aidsimmer noch tödlich“ sei. Was man davon zu halten hat, zeigen die Moderatorinnen oder Moderatoren am Ende durch die offenbar im Metier weit verbreitete mimische Kunst an, die Augenbrauen bis fast an den Haaransatz hochziehen zu können.

Diese Verallgemeinerung von epidemiologisch irrelevanten Randphänomenen stellt eine homo- und sexualfeindliche Manipulation dar, die mit der Realität nichts zu tun hat. Aus quantitativen sozialwissenschaftlichen Trendanalysen wissen wir, dass das Schutzverhalten seit Jahren unverändert hoch und der Anstieg der Neuinfektionen auf ein komplexes Ursachenbündel zurückzuführen ist (Schmidt/Bochow 2009). Epidemiologische Daten verweisen auf Transmissionen während des Primärinfekts (wenn die Infektion noch nicht erkannt und die Viruslast hoch ist) und die zusätzliche Vulnerabilisierung der immer noch hauptbedrohten und -betroffenen Gruppe der schwulen und bisexuellen Männer durch leicht übertragbare bakterielle Infektionen, welche Schleimhautdefekte verursachen (allen voran die Syphilis).

Aus einer gerade publizierten Erhebung geht darüber hinaus hervor, dass die vermeintliche „Sorglosigkeit“ (der Anderen!) erheblich überschätzt wird. Psychologen sprechen bei diesen falschen Wahrnehmungen und Zuschreibungen von „pluralistic ignorance“, welche aber, wenn ihnen nicht widersprochen wird, zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden können (Drewes 2010).
HIV-Prävention, heute sinnvoll erweitert durch den Blick auf andere interagierende Infektionen, ist dabei alles andere als einfach. Programme und Maßnahmen werden langfristig in Partizipation mit den Zielgruppen anhand von wissenschaftlichen Daten und plausiblem „community knowledge“ geplant, umgesetzt und begleitend evaluiert. Hierzu werden u. a. die von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung beauftragten Wiederholungsbefragungen zum Sexualverhalten von Schwulen und Bisexuellen herangezogen (zuletzt: Bochow/Schmidt/Grote 2010). Herausgestellt wird dort, dass riskante Kontakte im Zusammenhang mit Drogenkonsum für die Prävention relevant seien, das Internet als das zunehmend wichtigste Informations- und Kommunikationsmedium der Zielgruppe zukünftig mehr in der Prävention auch interaktiv genutzt werden sollte; es werden die Trends der Verbreitung unterschiedlicher Risikomanagementstrategien beschrieben, bestimmte Paarkonstellationen als besonders vulnerabel erkannt und zahlreiche Empfehlungen für Präventionsansätze diskutiert.

Allerdings stellen sich für ein weiterführendes Verständnis des Infektionsgeschehens auch Fragen, die mit der Methode der quantitativen Erhebung und Analyse nicht beantwortet werden können. Auch die Autoren der oben angeführten Studie stellen fest, dass bestimmte Zusammenhänge, die in einem quantitativen Ansatz in ihrer Relevanz beschrieben werden, die individuellen Dynamiken und Kontexte riskanten Handelns nicht beschreiben können. Wir freuen uns deshalb ganz besonders, dass wir mit diesem Sonderband „Kontexte von HIV-Neuinfektionen bei schwulen Männern“ eine wichtige Ergänzung und Erweiterung für das nicht pathologisierende Verständnis von präventivem Handeln vorlegen können. In der vorliegenden vom Bundesministerium für Gesundheit geförderten und von Dr. Michael Bochow durchgeführten qualitativen Untersuchung wurden 30 narrative, leitfadengestützte biographische Interviews mit frisch HIV-infizierten Schwulen durchgeführt. Das Sample kann im Hinblick auf das Alter, die Herkunft, die Bildungsabschlüsse und die Lebensstile der Befragten als heterogen bezeichnet werden.

Im kontrastierenden Fallvergleich konnten fünf Typen aus dem Material herausgearbeitet und zahlreiche Empfehlungen für die Prävention und Beratungerarbeitet werden. Die Kontexte, in denen Risikokontakte erfolgten, sind dabei vielschichtig. Kein einziges Interview verweist auf einen Infektionshintergrund, der durch intentional praktiziertes „barebacking“ bestimmt war. Anhand der Ergebnisse lässt sich festhalten, dass ein kontinuierlicher Bedarf an einer Ausdifferenzierung von Präventionsansätzen nötig erscheint, die den unterschiedlichen Lebensstilen von schwulen und bisexuellen Männern gerecht werden. Auchdie verschiedenen individuellen Bedeutungszuschreibungen von HIV und AIDS sollten in der Prävention adäquater berücksichtigt werden. Deutlich wird auch, dass Präventionskampagnen, die lediglich monothematisch den Kondomgebrauch betonen, als überholt betrachtet werden können.

Dr. Dirk Sander

 


 

TitelbildzurStudie Die Bochow-Studie 2010

 


 

LiteraturBochow, M./Schmidt, A. J./Grote, St. (2010): Schwule Männer und HIV/Aids: Lebensstile, Szene, Sex 2007. AIDS-FORUM DAH 55, Deutsche AIDS-Hilfe, BerlinDrewes, J. (2010): Sorglos sind immer die anderen. Wenn Wahrnehmung und Realität auseinanderklaffen. In: Deutsche AIDS-Hilfe e.V.: Jahrbuch 2009/2010, S. 35 Schmidt, A.J./Bochow, M. (2009): Trends in risk taking and risk reduction among German MSM. Results of Follow-Up Surveys “Gay Men and AIDS” 1991–2007. Veröffentlichungsreihe der Forschungsgruppe Public Health, Schwerpunkt Bildung, Arbeit und Lebenschancen, WissenschaftszentrumBerlin für Sozialforschung (WZB), Mai 2009 
Dieser Projektbericht enthält die sozialwissenschaftlichen Ergebnisse eines vom Bundesministerium für Gesundheit in den Jahren 2006 bis 2008 gefördertenProjekts. Das Projekt „HIV-Neuinfektionen bei schwulen Männern“ wurde in Kooperation mit Dr. med. Heiko Jessen und Dr. med. Arne Jessen durchgeführt. Der Projektbericht wurde von Dr. rer. pol. Michael Bochow erstellt.


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